Kurzoper für die Heimbühne
Vor einigen Jahren fand ich auf dem Flohmarkt ein rotes Album mit vier Schellackplatten „DER FREISCHÜTZ“. Sie wurden sofort meine, aber erst später in Ruhe sah ich, welchen Schatz ich dort erstanden hatte:
der Freischütz als
„Kurzoper für die Heimbühne - kein Potpuorri –
keine Fantasie - sondern das gesamte Werk“,
jedoch inhaltlich auf ¾ Stunden reduziert.
Statt zwei Strophen des Jägerchors hört man nur zwei Zeilen, statt langer Arien gekürzte „Volksauflagen“. Wenn man bedenkt, dass es 1928 noch keine Möglichkeit gab, Tonaufzeichnungen zu bearbeiten und vor allem zu schneiden, muss die Produktion für alle Beteiligten eine sehr große Herausforderung gewesen sein.
Nun sehr neugierig geworden, erkundigte ich mich bei der ´Deutschen Grammophon´ nach weiteren Werken und vor allem, warum diese Aufnahmen gefertigt wurden. Der Grund ist dort heute nicht mehr erkennbar, zumal der Inhalt der Oper wirklich sehr gekürzt ist (statt üblicher 2 Std 20 Min nur 48 Min Spieldauer). Vielleicht wollte man durch wenige (ja auch relativ teuere) Platten einem breiten Publikum Operngenuss verschaffen, denn die Gesamtaufnahme eines Opernwerks war damals nur für sehr wenige Menschen erschwinglich. Es entstanden 1928/29 bei der Grammophon vierzehn solcher Kurz-Opern, Kurz-Operetten und mit Wilhelm Tell auch einem Kurz-Drama. Interessant ist, dass im Grammophon-Katalog von 1934 diese Platten an erster Stelle genannt wurden - und dort standen von je her immer die „Renner“.
Im Innendeckel des Plattenalbums ist zu lesen: „Im eigenen Heim in knapp 3/4 Stunden aufführbar“. Also war gar nicht das Anhören der Platten das primäre Ziel der Produktion, sondern die Aufführungen des Werkes mit Hilfe dieser Platten im eigenen Heim, also im Wohnzimmer damaliger Bürgerhäuser.
Nun ist es genauso wenig vorstellbar, Waldszenen und Burgzimmer im Wohnzimmer zu dekorieren wie ganze Chöre auftreten zu lassen, um im Rahmen des damals beliebten Dilettanten-Theaterspiels große Opern mit lebenden Personen im häuslichen Bereich aufzuführen.
Weitaus eher vorstellbar sind derartige Aufführungen im eigenen Heim mit dem Figurentheater: Hand- und Stabpuppenspiel, Marionetten- und Schattentheater und nicht zuletzt auf dem damals sehr verbreiteten Papiertheater! Das Spiel mit Handpuppen erforderte jedoch zuviel Bühnenraum und -personal, als dass es realistische Chancen gehabt hätte, mit Hilfe dieser Tonaufnahmen Stücke zur Aufführung gelangen zu lassen. Die Beherrschung von Marionetten ist zu schwierig und die Möglichkeiten des Schattentheaters sind zu begrenzt, als dass auch diese Spieler nicht die große Zielgruppe der sicherlich auch damals wirtschaftlich denkenden Grammophon hätte sein können.
Einzig und allein das, was wir heute als Papiertheater bezeichnen und das damals unter Kindertheater bekannt war, kann der gedachte Adressat gewesen sein:
die kleine Spielfläche dieses Theaters erlaubt (damals wie heute) im eigenen Heim zu spielen, die Vielzahl der Dekorationsmöglichkeiten – gekauft oder selbst gefertigt – ermöglicht die spielerische Umsetzung der Vorgaben und mit wenigen handelnden Personen können viele Schauspieler bewegt (oder gestellt) werden.
Grammophone als Schallplattenwiedergabegeräte waren Ende der zwanziger Jahre – man tanzte Charleston - weit verbreitet und waren leichter zu bedienen, als andere Instrumente, die vorher der musikalischen Untermalung gedient haben mögen. Sie brachten wahrscheinlich auch mehr Kunstgenuss und weniger den Hund zum Jaulen als der Gesang der Hausfrau oder gar des die Laute spielenden Gatten. Und es war in unseren Breiten die Zeit des letzten großen Aufbäumens des Papiertheaters, bevor es in den nachfolgenden Kriegswirren in Vergessenheit geriet.
Der Begriff Kindertheater wird dem ganzen keinen Abbruch geben: wie viel Spielzeug gibt es noch heute, das eigentlich für die Kinder gedacht ist und die Väter spielen damit?! Unter „Kurzoper für das Kindertheater“ hätte jedoch niemand die Schellackplatten mit ernster Musik erworben; Kinder dürften damals wie heute in Opernmusik wenig Reiz gefunden haben und die Eltern hätten sich nicht angesprochen gefühlt. Also was machte die Werbeabteilung der Grammophon? Sie kreierte „Kurzopern für die HEIMBÜHNE“ und sprach damit einen derart großen Publikumskreis an, dass diese Schallplattenserien in wenigen Jahren zum Verkaufshit wurden. Natürlich ist heute nicht bekannt, wie viele Aufführungen mit diesen Schellackplatten auf den Heimbühnen tatsächlich stattfanden. Betrachtet man jedoch an diesen alten Platten die Gebrauchsspuren, sind es nicht wenige, die sehr häufig gespielt sein müssen, und andere, die wohl nur einmal auf dem Plattenteller lagen oder nie.
Wie alles, was alt ist und zerbrechlich, gelingt es heute nur noch selten, an derartige Schallplatten zu gelangen. Umso wertvoller ist diese Spezies „Kulturgut“ und verdient, gerettet und beachtet zu werden. Natürlich sind die Platten über die Jahre spröde und splissig geworden, so dass ein hektisches Papiertheaterspiel mit solchen Kleinodien zwar schön, aber doch zu risikoreich wäre. So haben auch wir denn zum Leidwesen mancher Zuschauer in Preetz 1998 den historisch vertonten Freischütz nur von einer Bandaufnahme gespielt.
Seither versuche ich, diese Aufnahme sowie die Platten weiterer Werke, in deren Besitz ich zwischenzeitlich gelangt bin, mit vielen Mühen und hohem technischen Aufwand akustisch aufzuarbeiten, um sie den stereo- und digital-verwöhnten Ohren heutiger Zuhörer ein wenig genehmer zu gestalten.
Man wird hören, denn die nächste Kurzoper für die Heimbühne kommt auf unserer Papiertheaterbühne bestimmt. Irgendwann, aber historisch getreu!
|